Entlang der Narbe (Platz 2 - Putlitzer Preis 2025)
Mit sechs Jahren platze mein Kopf. Die Sonne brannte. Ich hatte den Tag abwechselnd im Schatten und im Plantschbecken verbracht. Mutti hatte zu tun, den krabbelnden Kleinen vom aufgeheizten Kopfstein und den Stacheln der Brombeeren fernzuhalten. Ich war ungeduldig. Es war Freitag. Der beste Tag der Woche. Freitags kam mein Vater nach Hause. Von Drüben. Diesem unbekannten Ort, an den er jeden Sonntagabend fuhr. Blaumann. Reisetasche. Zum Abschied zwei Kopfnüsse und ein Kuss. Meine Kopfnuss mit der rechten Hand. Ziemlich doll. Ich liebte es. Die für meinen Bruder mit der linken. In der hatte Vati nicht so viel Kraft und der Kopf meines Bruders war ja noch ganz klein. Mamas Gesicht nahm er in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Dann fuhr er los. Am Freitagabend geschah das Gleiche nur umgekehrt. Hupend fuhr er auf den Hof. Kuss für Mama. Kleine Kopfnuss für den Kleinen. Große Kopfnuss für mich. Dieser heiße Sommerfreitag war keine Ausnahme gewesen. Hupen. Kuss. Kleine Nuss. Große Nuss. Doch ich hatte noch eine Überraschung für Vati. Ich rannte zum Schuppen und zog mein Fahrrad daraus hervor. In Badehose und braungebrannt rollte ich auf meinen Vater zu. Ein stolzes Lächeln auf meinem Gesicht. Die ganze Woche hatte ich geübt. Fahren ohne Stützräder. Zack. Das Vorderrad rutschte an einem der runden Steine ab. Ich verlor den Halt. Fiel. Kopf auf Kopfstein. Mein Vater über mir. Seine Hände fest um meinen Kopf. Jemand weinte. Alles tat weh. Tatütata. Irgendjemand hob mich hoch. Dann war ich weg. Fühlte nur noch die Hände meines Vaters, die meinen Kopf zusammenhielten.
Pattpattpattpattpattpattpatt. Schnelles Klopfen. Niemand machte auf. Pattpattpattpattpattpattpatt. Warum klingelte es nicht? Warum ging Mutti nicht zur Tür? Ich öffnete meine Augen. Ich versuchte es zumindest. Meine Wimpern wie Gefängnisstäbe vor meinem Blick. Weiße Laken. Ein unbekanntes Bett. Mein Vater auf einem Hocker. Sein Fuß rastlos auf den grauen Linoleumboden tappend. Als er meinen Blick fand, sprang er auf. Bremste ab. Legte seine Hand sanft auf meine. Drei Tage hatte ich geschlafen. Eine Narbe würde bleiben. Ich wurde wieder müde. „Du musst doch nach Drüben“, sagte ich. Jedes Wort ein Stich in meinem Kopf.
„Ich muss nur hier sein“, sagte mein Vater.
Dann schlief ich wieder ein. Zwei Tage später durfte ich nach Hause gehen. Es war das einzige Mal, dass mein Vater die ganze Woche zu Hause blieb.
Klein und kräftig. Die Nägel kurzgeschnitten. Vaters Hände waren Nussknackerhände. Abends beim Fernsehen stellte Mutti ihm eine Schüssel mit Walnüssen auf den Couchtisch. Vati nahm sich eine Nuss, grub die Finger in die Schale und drückte zu. Knack. Manchmal brach die Schale perfekt. Direkt entlang der Narbe, sodass die ganze Nuss zum Vorschein kam. Dann begann unser Spiel. Die Nuss lag offen auf Vatis Handteller. Ich musste versuchen, sie zu schnappen, ohne dass er meine Hand fing. Gelang es ihm, zog er mich lachend zu sich und verpasste mir eine Kopfnuss. Ganz sanft. Direkt entlang der Narbe. Dann hielt er kurz meinen Kopf, küsste ihn, bevor er mich entließ und ich die Nuss essen durfte. Es dauerte noch Jahre, bis ich gewinnen konnte.
Ich liebte das Spiel und ich liebte es zu verlieren.
Mit 16 machte ich meinen Mofa-Führerschein.
Vati schenkte mir einen Helm für meinen Dünnschädel, wie er meinte. Er setze ihn mir auf. Kräftiger Ruck. Prüfend, ob er richtig saß.
„Immer schön tragen“, sagte er, durch das Visier in meine Augen blickend.
Ich nickte und Vati verpasste dem Helm eine Kopfnuss. Ich trug ihn stets. Fuhr ich, kribbelte die Narbe auf meiner Stirn, zog unser Dorf an mir vorbei, spürte ich den festen Griff meines Vaters um meinen Kopf. Mir konnte nichts passieren.
Freitage blieben die besten Tage. Auch wenn ich mit meinem Bruder Hausaufgaben machen musste. Laufen und Sprechen konnte er inzwischen, aber Mathe war ein Problem. Wir beide warteten auf das Hupen, das Vati ankündigte. Hupen. Kuss. Linke Nuss. Rechte Nuss. Wochenende.
An einem Freitag blieb das Hupen aus. Der Duft von erkaltendem Nudelauflauf lag matt in der Küche. Die Nachrichten waren längst vorbei. Eine Schüssel Walnüsse wartend auf dem Couchtisch. Die Küchenuhr tickte wie eine zähe Vorahnung. Vati ging nicht ans Telefon. In der Firma war niemand zu erreichen. Mein Bruder weinte. Mutti wollte zur Polizei. Ich war drauf und dran aufs Mofa zu springen und nach Drüben zur Firma zu fahren. Ein weiter Weg. Ich setzte mir meinen Helm auf, als das Telefon klingelte. Wir alle stürmten zu dem Apparat. Meine Mutter hielt den Hörer. Ich meinen Bruder an den Schultern. Am starren Gesicht meiner Mutter vorbei drangen einzelne Wörter in den Raum.
„Ladefläche“
„Träger“
„falsch gesichert“
„ins Rutschen geraten“
„Notaufnahme“
Sechs Wochen blieb Vati im Krankenhaus. Die ersten Wochen war er nur Verband und Schläuche gewesen. Ein zerbrochener Körper, in dem mehr Ungewissheit als Leben steckte. Dann kam das Atmen zurück. Dann das Sehen. Dann das Sprechen. Ein Flüstern zunächst, doch nie zuvor waren mir Worte lauter ins Ohr gedrungen.
Ich hielt seine Hand in meiner. Die rechte Schulter zertrümmert. Der Arm gequetscht. Knochen gebrochen. Schädel angeknackst. Die Ärztin versicherte uns, wie viel Glück er gehabt habe. Dem Helm sei Dank. Den Blaumann würde er jedoch eine lange Zeit nicht mehr tragen. Wenn überhaupt je wieder. Operationen stünden bevor. Viel Physio. Am Kopf würde eine Narbe zurückbleiben. Ich nannte ihn einen Dünnschädel und hörte ihn endlich wieder lachen.
Es gab keinen besten Tag mehr. Jeder Tag, war der beste Tag. Wir alle waren zu Hause und zusammen. Den Blaumann hatte Vati gegen Jeans und T-Shirt getauscht. Meist kochte er. „Das geht doch mit links.“, sagte er und lachte, während er den rechten Arm noch lange in einer Schiene trug. Beim Fernsehen grub ich meine Finger in die Walnüsse. Knack. Brach eine perfekt, legte ich sie auf meinen Handteller und reichte sie meinem Vater. Ich fing ihn oft. Gab ihm eine Kopfnuss. Sanft. Direkt entlang der Narbe. Er lachte und mit der Zeit wurde er immer schneller. Ich liebte das Spiel und ich liebte es zu verlieren.